Der Holzklotzwurf - Gedankenlosigkeit und Entwicklungsdefizite
Warum werfen Jugendliche einen Holzklotz von einer Autobahnbrücke? In einem Artikel der ZEIT geht der Kinder- und Jugendpsychologe Wolfgang Bergmann dieser Frage nach. Jugendliche hatten am Ostersonntag eine Holzklotz von einer Brücke geworfen und dabei eine Frau getötet. Bergmanns Erklärungsansatz: die Gruppe habe eine Art Hochgefühl entwickelt, und dabei seien die Hemmungen abgebaut worden, was schließlich zum erwähnten Wurf des Holzklotzes geführt hat.
Die "fehlende soziale Stimme" oder "der Abschied vom Gewissen" - das sind Bezeichnungen für fehlende Kontrollmechanismen - ein Problemfeld, das sich auch in anderen Nachrichten immer wieder zeigt. Nachdenklich stimmt die Skepsis gegenüber den Möglichkeiten der Gewaltprävention - sind "Belehrung und Verhaltenstrainings" wirklich nutzlos? Es fällt mir schwer, diese pessimistische Haltung so stehen zu lassen - denn es würde bedeuten, dass Jugendliche heute nicht mehr vernünftig zu denken imstande sind und ihre Lernfähigkeit im Bereich des Verhaltens weitgehend verloren haben. Und wenn es so sein sollte, dass Programme zur Gewaltprävention nicht wirken, nicht mehr zeitgemäß sind - dann brauchen wir eben neue, bessere, zeitgemäße. Damit wird sicher mehr erreicht als mit der Vorstellung, die Jugend von heute sei so narzisstisch und gewissenlos, dass sie in unerreichbare Ferne gerückt ist. Die Frage ist zunächst, was denn mit einem solchen Programm erreicht werden müsste, was denn da genau fehlt, wenn Jugendliche "einfach so" einen Klotz von einer Brücke werfen?
Kontrollschemata: Inhalt, Struktur und Dynamik
Nehmen wir an, es hätte in der Gruppe eine vernünftige Person gegeben, die den geplanten Holzklotzwurf zu verhindern versuchte. Vernunft würde sich zeigen in der Vorwegnahme möglicher Konsequenzen - und einer angemessenen Bewertung dieser möglichen Konsequenzen. "Tue nichts, was andere Menschen in Gefahr bringt" könnte eine Formulierung für ein entsprechendes Kontrollschema sein. DIe Logik des Unterlassens, die dieses Schema konkretisiert, setzt nicht notwendigerweise eine besonders empathische Haltung voraus - auch die Angst vor möglichen Konsequenzen, die als Folge für die eigene Person auftreten können, kann einen solchen Mechanismus in Gang setzen. Wenn mein Verhalten möglicherweise unangenehme Konsequenzen hat, gibt es einen vernünftigen Grund, dieses Verhalten zu unterlassen. Wenn man, wie gesagt, soweit denkt...
Und das - ist Übungssache, meist eine Folge des Reiferwerdens, ein ganz natürlicher Entwicklungsvorgang also. Wohl jedes Kind macht früher oder später die Erfahrung, dass es weh tut, wenn man sich das Knie oder den Kopf irgendwo anschlägt - und dass Dinge kaputt gehen, wenn man sie fallen lässt. Je größer die Höhe, umso schneller.
Die "fehlende soziale Stimme" hat aber noch einen anderen Aspekt - Verhaltensmuster, die sich auf einen respektvollen Umgang mit anderen Menschen beziehen, Normen und Werte, die die körperliche Unversehrtheit und das Leben anderer Menschen respektieren und schützen, fallen nicht vom Himmel. Es geht hier um Lernprozesse sozialen Verhaltens, um die Verinnerlichung von Umgangsformen, die am besten vorgelebt werden. Sollten alle Vorbilder verschwunden sein, die mögliche Gefahren berücksichtigen und dort Grenzen setzen, wo Spiel und Spass oder Sport gefährlich werden können? Sind alle Erwachsenen verschwunden, die in der Lage sind, Konsequenzen des Verhaltens aufzuzeigen und für die Entwicklung entsprechender Normen und Werte Sorge zu tragen?
Narzissmus, Egoismus und Permissionsschemata
So weit hergeholt ist die Vermutung nicht, dass beim Holzklotzwurf Alkohol oder Cannabis im Spiel waren. Denn selbst dann, wenn entsprechende Kontrollmechanismen entwickelt waren, wäre es möglich, dass sie durch die enthemmende Wirkung von Alkohol oder Drogen ausser Kraft gesetzt wurden. Narzisstische, egoistische oder antisoziale Haltungen liefern einen Erklärungsansatz, der im Begriff der Permissionsschemata eine bisher wenig geläufige Bezeichnung bekommt.
Im Klartext: wenn der Gedanke vorherrscht "ich darf das" oder "es ist mir egal, wenn etwas geschieht" oder "es ist in Ordnung, anderen Schaden zuzufügen", dann lässt sich damit auch im Bewusstsein der möglichen Konsequenzen ein solcher Holzklotzwurf "verstehen" - was nicht bedeutet, ihn zu rechtfertigen. Nur zu Ergänzung: Phänomene des "groupthink", des verzerrten Blicks auf die Realität in einer Gruppe, die sich selbst für "ganz toll" hält und die erhöhte Risikobereitschaft von Gruppen sind aus der Sozialpsychologie bekannt. Es könnte ein Thema sein für Jugendliche, die in der Gefahr stehen, sich in der Gruppe zu Taten hinreissen zu lassen, die sie allein niemals tun würden.
Die Verantwortung der Erwachsenen
Ich glaube nicht, dass sie ausgestorben sind - die Eltern, erziehenden, betreuenden, lehrenden und ausbildenden Erwachsenen, die Kindern und Jugendlichen die Konsequenzen ihres Verhaltens bewusst machen und dabei selbst Vorbild sind für angemessene Umgangsformen. So unvollkommen sie dabei auch sein mögen - ethische Massstäbe und Menschlichkeit verschwinden nicht einfach.
Die "soziale Stimme" ist nicht stumm - dort, wo sie nicht (mehr) verinnerlicht wird, könnte und sollte sie sich vielleicht ihrer selbst wieder bewusst werden und sich mit Nachdruck Gehör verschaffen.
Inzwischen geht die Polizei zahlreichen Hinweisen nach - wenn man die hohe Aufklärungsquote in Deutschland berücksichtigt, könnte sich schon bald zeigen, dass es nicht möglich ist, einfach so mit Klötzen um sich zu werfen und zu glauben, dass sich daraus keine Konsequenzen ergeben würden.